Der einundneunzigste Geburtstag

Eine Kurzgeschichte von Christa Krämer

Beitrag zum Kurzgeschichtenwettbewerb 2006 des Projekte-Verlags 188 zum Motto „Herbstlaub“

Prämiert mit dem zweiten Platz und abgedruckt in der Anthologie „Der Morgen nach dem Winterschlaf. Herbstlaub“


Golden bricht sich das Sonnenlicht im schon rostbraunen Laub des wilden Weins, der die Gartenlaube bedeckt. Der Schaukelstuhl, auf dem es sich Annette bequem gemacht hat, wippt sanft hin her. In den Reben zwitschern Spatzen und Meisen. Sie suchen Schutz vor der letzten aufflammenden Glut der Spätsommerhitze. Ein leichter Schlummer befällt die alte Dame. Mittwoch nächster Woche feiert sie ihren 91. Geburtstag. Ihre Nachbarn, Hilde und Manfred, ein Ehepaar mittleren Alters, wollen rechtzeitig von ihrer Romreise zurücksein, damit sie diesen Tag nicht alleine verbringen muss.

 

Annette denkt an ihren Geburtstag im letzten Jahr. Gemeinsam mit Hilde hatte sie sich voller Elan in die Vorbereitungen ihres Neunzigsten gestürzt. Ein rauschendes Fest hatte sie sich vorgestellt. All ihre Lieben sollten dabei sein, mit ihr singen, tanzen, lachen. Als Übung für ihre leicht arthritischen Finger hatte Annette mit den Blütenblättern der vielen Frühlingsblumen aus ihrem Garten kunstvolle Einladungskarten gebastelt. Sie hatte sie in rote, grüne, violette, blaue und rosa Kuverts gesteckt. Eigens war sie mit der Stadtbahn zur Hauptpost gefahren, hatte Wohlfahrtsmarken gekauft und den Schwung Briefe hoffnungsfroh auf die Reise geschickt. Rechtzeitig hatte sie geplant und eingeladen, damit der Termin ja nicht schon vergeben wäre.

 

Zum angegebenen Rückmeldetermin hatte sich nur Gabriele, die geschiedene Frau ihres Enkels Paul gemeldet. Gabriele, die stets korrekte Person, die es immer allen recht machen will. Annette hatte sie mit ihrer Einladung wohl auch wieder in Gewissensnöte versetzt. Denn Gabriele wand sich mit ihrer Entschuldigung wie eine Riesenschlange um eine fünfundvierzig Meter hohe Eiche.

Annette beugt sich nach rechts zu dem kleinen Holztischchen neben ihr und nimmt die Mappe auf ihren Schoß, die sie dort abgelegt hat. Sie öffnet sie und blättert in einem Stapel Briefe.

 

„Liebe Mama“, liest sie. „Wirst Du tatsächlich schon neunzig?“

‚So eine dumme Frage’, denkt Annette. Das ist wieder mal typisch für ihre Älteste, die meint, immer aufmunternd sein zu müssen. Annette liest weiter.

„Mama, Du weißt hoffentlich, wie gerne Alex und ich mit Dir feiern würden. Aber im Altenheim am Lindenbach, in dem ich ehrenamtlich tätig bin, findet gerade an diesem Tag ein Altweibersommerfest statt. Mama, da kann ich unmöglich fehlen. Bitte, das verstehst Du doch, oder? Ich kann doch die vielen alten Menschen nicht im Stich lassen. Wir denken an Dich, Mama. Ich drück Dich. Anna“

 

Julia, ihre zweite Tochter, meldete sich per Mail aus Shanghai. „Hi, Mom, Du siehst, ich stecke im Ausland. Ich muss noch bis nächstes Frühjahr hier bleiben. Hab’ ich Dir, glaube ich, erzählt. Tja, und eine Woche vor Deinem Geburtstag bin ich schon in Sydney. Noch ein Langstreckenflug wäre mir da einfach zu teuer. Sorry also, dass ich nicht kommen kann. Aber es werden bestimmt genug Leute da sein. Küsschen Julia“

 

Annette braucht die Briefe ihrer fünf Enkel samt Anhang gar nicht zu lesen. Sie erinnert sich genau an die ach so nach Verständnis lechzenden Entschuldigungen: Opernfahrt nach Verona, Raftingtour in Tirol, wichtige Meetings in der Firma, Vierziger-Treffen in Heidelberg, Pilgerwanderung auf dem Jakobsweg, Selbsterfahrungsgruppe <Mein Leben ohne Sprit!>, OP-Termin beim Schönheitschirurgen.

 

Auch die neun Urenkel hatten sich als äußerst einfallsreich erwiesen beim Erfinden von Ausreden: oberwichtiges Schwimmtraining, Lerngruppe für die nächste Matheklausur, allerletzte Fahrstunde vor der Fahrprüfung, Probenwochenende für „Jugend musiziert“, Ehevorbereitungsseminar im Kloster Kellenried, Kletterpartie im Oberen Donautal, Studienfahrt nach Tschernobyl, Aktionssammeltag „Weg mit der Mikrowelle!“.

 

Zwei Blätter fallen aus der Mappe. Annette hebt sie auf und liest die letzte der urenkelschen Nachrichten: „Ciao, Granny, was geht? Kann leider nicht zu Deiner geilen Fete kommen. Bin da nämlich auf’m Hipp-Hopp-Spektakel. May be, ich mach den ersten Platz. Wär’ doch schade, wenn ich drumrum käme, oder? Love Peggy“

 

Sogar der bisher einzige Ururenkel, der fünfjährige Maximilian, hatte keine Mühe gescheut und Annette eine Bildnachricht gemalt. Auf einer bunten Wiese sind zwei Fußballtore zu sehen, davor ein kleiner Junge mit zottigen blonden Locken. Überdimensional große Tränen kullern über seine Pausbäckchen. Daneben ist in krakeligen Druckbuchstaben, denen deutlich anzusehen ist, dass sie mühsam einer Vorlage nachgezeichnet wurden, zu lesen: „Kindergeburtstag bei Florian. Schade. Dein Mäxchen“. Ein großes, schiefes, knallrotes Herz hängt in einem Tannenbaum. Ticktack-Oma und die Zahl 90 stehen drauf.

 

Unendlich traurig blickt Annette in eine leere Ferne. Die Mappe fällt zu Boden und ihre Briefe werden von einem sich plötzlich erhebenden Windstoß in die warme Spätsommerluft hinaus getrieben. Da blitzen die Augen der alten Dame frech auf, als ob der Wind ihr etwas in ihre fast tauben Ohren geflüstert hätte. Vergnügt klatscht sie in die Hände und hievt sich aus ihrem Schaukelstuhl. Auf ihren knorrigen Weidenstock gestützt macht sie sich auf den Weg zurück ins Haus. Sie schiebt die große Balkontüre zur Seite, geht zielstrebig auf ihren kleinen Massivholzsekretär zu, der vor dem Blumenfenster im Erker steht, drückt auf den Einschaltknopf ihres leicht antiquierten Computers und lässt sich in ihren mit vielen weichen Kissen ausstaffierten Schreibtischstuhl fallen. ‚Welch’ ein Glück, dass ich mich immer in der Bedienung dieses Geräts fit gehalten habe’, denkt sie und bewegt mit ihren schmalen Fingern flink die Maus und das Keyboard. Sie öffnet ein leeres Dokument und schreibt einen Text. Mit wenigen Handgriffen ist die Formatierung gemacht. Annette blickt zufrieden auf das Ergebnis auf ihrem 21-Zoll-Flachbildschirm und liest laut vor:

 

 

In aller Stille verstarb nur wenige Tage vor ihrem 91. Geburtstag

 

Annette Franziska Kirsch

 

Sie durfte in den frühen Abendstunden des 7. Oktobers

friedlich einschlafen.

 

Eine kleine Trauerfeier findet am Mittwoch, den 14. Oktober

um 11.oo Uhr in ihrem Haus im Stachelbeerweg 111 statt.

 

 

 

„Sehr schön. Seeehr schöön!“ sagt sie zu sich selbst. „Annette, das hast du wirklich gut gemacht.“

 

Annette legt naturweiße Postkarten in ihren alten Tintenstrahldrucker ein und gibt den Druckbefehl. Sie holt einen Stapel Kuverts aus ihrer Schreibtischschublade, nimmt ihr bereits vergilbtes Adressbuch zur Hand und schreibt und schreibt und schreibt, tütet ein, tütet ein, tütet ein. Sie kauft sich unansehnliche Briefmarken aus dem Automaten und ab geht die Post. „So, jetzt harr’ der Dinge, die da kommen“, flüstert sie mit einem letzten Blick auf die Kuverts und schiebt sie der neugierig dreinblickenden Frau am Postschalter hin.

 

Am Morgen des 14. Oktober hält es Annette nicht lange im Bett. Mit dem ersten Sonnenstrahl rutscht sie aus den Federn, öffnet das Fenster und klappt die Fensterläden nach außen. In ihren etwas zu weiten Birkenstocksandalen schlurft sie in ihre kleine Küche, trinkt eine große Tasse Milchkaffee und knabbert an einem trockenen Knäckebrot. Mehr bringt sie vor Aufregung nicht hinunter.

 

Wenig später klingelt es an der Haustür und ein dreimaliges kurzes Klopfen lässt die alte Dame wissen, dass Hilde, ihre Nachbarin, gleich eintreten wird. Hilde und Manfred sind selbstverständlich eingeweiht, und Hilde hat Annette versprochen, ihr beim Duschen, Ankleiden und Hübschmachen zu helfen. Vor zwei Tagen waren sie eigens über die Königstraße gebummelt und hatten in einer Boutique ein sündhaft teures adrettes, taubenblau eingefärbtes Leinenkleid erstanden. Ein regenbogenfarbener Seidenschal wird das Arrangement abrunden und geschickt Annettes runzligen Hals verdecken.

 

Gerade als sie den von ihrer Schwiegermutter ererbten schweren Brillantring, der sonst unbenutzt in seinem samtbeschlagenen Schächtelchen in einer Schublade ihrer Wäschekommode ruht, über ihren rechten Mittelfinger schiebt, hört sie ein Auto vorfahren. Laut wie das Uhrwerk einer Turmuhr beginnt ihr altes Herz zu hämmern. Annette geht zum Fenster, zieht vorsichtig den Vorhang eine Idee zur Seite und späht nach draußen. Sie sieht, wie sich ihr gut situierter Enkel Paul aus dem Sportsitz seiner Mercedes-Limousine schält. Seine zweite Frau Ingrid steht bereits auf dem Gehweg und zupft sich ihr schickes tiefschwarzes Designerkleid zurecht. Sie klappt einen Taschenspiegel auf und zieht sich mit einem Lippenstift ihre Lippen nach. Paul öffnet den Kofferraum. Annette kann genau erkennen, wie er schwungvoll einen riesigen, mit weißen Rosen übersäten Kranz herausholt. Sie lässt den Vorhang fallen, dreht sich um, wirft noch einen kurzen Blick in den langen Spiegel an der Schranktür und sagt: „Es geht los, Annette. Auf in den Kampf!“

 

Sie setzt sich in den kleinen Sessel, der neben ihrem Bett steht und wartet geduldig darauf, dass Hilde sie, wie verabredet, nach unten holt. Ein Auto ums andere fährt vor. Türen knallen, ein Kind schreit und wird augenblicklich ermahnt, leise zu sein. Kofferraumdeckel werden vorsichtig zugedrückt, Begrüßungen einander zugeworfen. Annettes altes Haus füllt sich mit verhaltenen Stimmen. Nur die Toilettenspülung rauscht rücksichtslos vor sich hin wie eine vom Wind aufgescheuchte Brandung und hin in und wieder schnäuzt sich jemand geräuschvoll. Bestimmt ist es Karlheinz, der Trompeter von Säckingen der Familie.

 

Es ist kurz nach elf. Das Wispern verstummt und Annette hört Schritte auf der durchgetretenen Holztreppe. Hilde öffnet einen Spalt breit die Schlafzimmertür. Ihr rundes sommersprossiges Gesicht zeigt sich in der Öffnung. Ein breites, glückliches und leicht schadenfrohes Lächeln steht zwischen ihren Ohren. Sie winkt Annette heran und nimmt den Arm der alten Dame. Gespannt wie ein Flitzebogen schreiten die beiden Frauen die Treppe hinab. Sie bleiben kurz stehen. Annette muss einmal tief durchatmen. Sie glaubt ihren Augen nicht zu trauen, denn es bleibt nur eine schmale Gasse frei zwischen all den Kränzen, Gebinden und Sträußen, die ihren großen Hausflur überfluten. Ein Blumenmeer, wie es ihr in den neunzig Jahren zuvor niemals zuteil geworden war. Sie riecht den schweren Duft von unzähligen Rosen, die in dunkel- bis hellrot, gelb, weiß und sogar königsblau leuchten. Sie entdeckt rosa Gerbera und lachsfarbene Calla. Sie streicht mit ihren schmalen Fingern zärtlich über die ovalen Blätter eines Buchsbäumchens, das aus einem mit roten Nelkenblüten gefüllten herzförmigen Gebinde herausragt.

 

Annettes graue Augen füllen sich mit Tränen. So viel Blütenpracht für eine verstorben Geglaubte und nicht ein einziger Fleuropstrauß im letzten Jahr!

 

Hilde öffnet leise die Doppeltür zum Wohnzimmer. In Reih und Glied wartet Annettes vollständig versammelte Familie. Hilde weicht einen Schritt zur Seite und gibt den Blick auf die alte Dame frei. Annette spürt sie in allen Fasern ihres Körpers, die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm. Dann hört sie ihn herannahen und sie strafft die Schultern, um seiner Wucht standhalten zu können. Paul springt so abrupt auf, dass sein Stuhl nach hinten auf Dieters Knie fällt, der vor Schmerz aufschreit. Ingrid, das feine Dämchen, fällt augenblicklich in eine geschickt vorgetäuschte Ohnmacht. Annette denkt an Riechsalz. Peggy reißt sich die Stöpsel ihres MP-3-Players aus den Ohren und brüllt wie am Spieß. Dabei hüpft sie auf eine Art herum, dass ihre Urgroßmutter sich fragt, ob sie im letzten Jahr damit wohl den Hipp-Hopp-Wettbewerb gewonnen hat. Mirko und Kathrin sind die Kinnladen nach unten gefallen. Annettes alte große Schöpfkelle, die in der Küche über dem Herd hängt, würde Platz in den offenen Mündern finden. Ein Tohuwabohu herrscht in der guten Stube, alles rennt, schreit, gestikuliert durcheinander.

Nur Anna und Julia kauern mit gesenktem Blick beschämt auf ihren Plätzen, die tränenfeuchten Taschentücher in ihren Händen knetend. Sie trauen sich nicht, ihrer alten Mutter ins Gesicht zu schauen.

 

Annette hebt langsam die Hand und ermahnt zur Ruhe. Sie hat sich lange überlegt, was sie in dieser Minute sagen will. Hilde schiebt ihr einen Sessel hin. Während die alte Dame Platz nimmt, kehrt wieder Ruhe ein. „Meine Lieben“, sagt sie mit fester Stimme und blickt in die Runde. „Ich bin zutiefst gerührt, wie zahlreich ihr meiner Einladung gefolgt seid…“.

„Also, das ist doch…“, ruft die zu neuem Leben erwachte Ingrid empört dazwischen. „Halt’s Maul!“ zischt Paul sie an und seine Augen sagen, dass er diesmal keine Widerrede duldet.

„…wie zahlreich ihr meiner Einladung gefolgt seid“, fährt Annette fort. „Eigentlich wollte ich ja im letzten Jahr mit euch allen feiern. Unaufschiebbare Verpflichtungen eurerseits hatten es leider nicht möglich gemacht.“

Ein Wispern zieht durch die Reihen und Fragen und Sätze wie „Konntest du etwa auch nicht kommen?“, „Wer war denn überhaupt da?“, „Hast du dich etwa nicht gemeldet?“, „Das ist ja furchtbar!“, „Die arme Uroma!“ oder „Hättest du das nicht verschieben können?!“ wurden laut.

„Sei’s drum“, spricht Annette weiter. „Jetzt seid ihr alle da. Petrus ist uns wohlgesonnen, wir müssen uns nicht im Wohnzimmer zusammenquetschen. Paul, du sammelst die Männer zusammen. Manfred hat gestern Biertischgarnituren besorgt. Die müssen im Garten aufgestellt werden. Julia und Anna, ihr überlegt mit den anderen Frauen, was ihr auf die Schnelle Essbares auf den Tisch zaubern könnt. Ihr wisst ja noch, wo der Supermarkt ist. Und alle Urenkel kommen mit mir. Ich zeige euch, wo ihr Tischdecken und Geschirr findet.“

 

Ohne Murren erheben sich alle von ihren Plätzen und machen sich an die Arbeit. Nach kaum zwei Stunden kann das Fest beginnen. Annette thront in ihrem Schreibtischstuhl, den Alex der Bequemlichkeit wegen extra aus dem Wohnzimmer geholt hat. Sie sieht Teller, Platten, Schüsseln und Körbchen umherwandern. Korken knallen und Gläser klirren. Irgendwer hat den alten Plattenspieler auf die Terrasse geschleppt. Begleitet von Reinhard Meys „Über den Wolken“ rast Mäxchen quer durch die Büsche und spielt „Airbus 2050“.

 

Annette ist zufrieden. Sie ist sehr zufrieden. Ihre Augen wandern hinüber zur Gartenlaube, die jetzt umringt ist von den Kränzen, Gebinden und Sträußen. Sie liest die Schriftzüge auf den goldenen, weißen, schwarzen und weinroten Schleifen. „In stillem Gedenken“, „Auf ewig in Liebe verbunden“, „In Dankbarkeit und Liebe“, „Geliebt und unvergessen“, „Tschüs Ticktack-Oma“.

„Tschüs Mäxchen“, flüstert Annette.

 

Von den anderen unbemerkt steht die alte Dame auf, geht hinüber zur Laube und setzt sich in ihren Schaukelstuhl. Sanft wippt sie hin und her. Sie wirft einen glücklichen Blick auf das fröhliche Treiben vor ihr im Garten. Ein Lächeln zaubert sich auf Annettes Lippen. Dann schließt sie ihre müden Augen und schläft friedlich ein.



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