Oh Tannenbaum


Oh Tannenbaum, oh Tannenbaum in:

Ursula Richter (Hrsg.), Weihnachtsgeschichten am Kamin, Band 18, 2003, Rohwolt Taschenbuch-Verlag

ISBN 3-499-23501-3, 6,90 Euro


Leseprobe

Es war der 6. Januar, das Fest der Heiligen Drei Könige. Unter Schimpfen und Fluchen ging ich wieder der lästigen Pflicht des Christbaumabräumens nach. Du kennst das ja: Noch ehe du alle Kugeln und Kerzen abgenommen hast, fallen sie dir von selbst entgegen. Auch, und der Christbaum selbst, ein Häuflein Elend in Form eines nackten Gerippes steht nun mitten im Wohnzimmer, die Nadeln ein dichter Teppich auf deinem blitzblanken Parkett. Noch Wochen, ja Monate, nein eigentlich bis zum nächsten Weihnachtsfest ist es kaum möglich, barfuß oder in Socken durch die Wohnung zu gehen. Aua! Siehst du, schon wieder hat eine dieser unbarmherzigen Nadeln aus ihrem Versteck gefunden, um sich in dein zartes Fleiß zu beißen… An jenem 6. Januar beschloss ich, ein für allemal Schluss zu machen mit dieser Farce…

Das allein hätte schon genügt, um mich der Lächerlichkeit preiszugeben. Doch erschwerend kam hinzu, dass der Weg mitten durch die altweibersommerlich belebte Fußgängerzone führte. Ich war gezwungen, meinen mit vielen kleinen Weihnachtsbäumen bedruckten Weihnachtsbaumkarton spießroutenlaufähnlich an den anderen Einkaufsbummelnden vorbeizujonglieren, peinlichst darauf bedacht, ja niemanden die Knie wegsacken zu lassen oder womöglich frontal mit einem Kinderwagen zu kollidieren oder schlimmstenfalls einem hässlichen kläffenden Köter einen tödlichen Stoß zwischen die Augen zu versetzen.

Welch ein Martyrium? Oh nein, das war noch nicht das Unerträglichste. Ausgerechnet an diesem Tag brannte die Sonne vom Himmel, als ob es galt, der ganzen Stadt zu beweisen, dass es unmöglich schon Ende Oktober sein konnte. Ich spürte deutlich, wie kleine Schweißrinnsale sich einen Weg meinen Rücken hinunter bahnten. Mindestens alle fünf Meter musste ich auf meinem pflastersteinigen Weg innehalten, um neue Kraft zu schöpfen – bald schien keine mehr da zu sein…

Endlich zu Hause angekommen…ließ ich meine Last einfach im Flur fallen.

Schweißgebadet, mit vor Überanstrengung zitternden Händen und Beinen und den Tränen nahe sank ich in den nächstbesten Sessel. Endlich zu Hause hoffte ich auf die liebevolle und tröstende Umarmung meines Mannes, der angesichts meiner ungeheuren Leistung in Jubel hätte ausbrechen sollen. Pustekuchen! Ausgeschimpft hat er mich, weshalb ich ihn nicht angerufen und gebeten hatte, mit dem Auto zum Kaufhaus zu kommen, um mich abzuholen. Und noch Tage danach wurde ich von schrecklichem Muskelkater geplagt…

So wurde ich doch entschädigt für meine Mühe. Und mit leuchtenden Augen und sonoren Klängen tauchten wir ein in eine stille, heilige Nacht.


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